Der „Appell“ des Dalai Lamas an die Menschheit „Ethik ist
wichtiger als Religion“ traf bei mir auf fruchtbaren Boden: Ein weiser weltweit
informierter und geschätzter Religionsführer gibt das Zepter religiöser
Autorität an die Menschheit ab. Es ist jetzt tatsächlich die Zeit, wo wir als
normale einfache Erdenbürger uns nicht mehr hinter einer sog. Heiligen Schrift,
einer Kirche oder Lamas, Päpsten, Bischöfen, Pastoren, Professoren und anderen
Gurus verstecken können, sondern selber an einer Globalen Ethik mitarbeiten dürfen,
können und sollen. Es geht also jetzt bei einer Ethik nicht mehr um eine
Exegese und Anwendung von Thora-, Bibel- oder Korantexten oder Kants Imperativ,
sondern darum, dass jedeR sich berufen fühlt, eigenverantwortlich an einer
aufbauenden zukunftstauglichen Ethik mitzuwirken. Und das sei sogar wichtiger
als Religion, schreibt der Dalai Lama.
Mit „Ethik“ verbinde ich eine maßgebliche und handlungsleitende
Orientierung für alle Menschen. Die bisherigen Ethiken der Religionen und
Philosophen haben wohl im Laufe der letzten etwa dreitausend Jahre ihren
wichtigen Beitrag zur Entfaltung der menschlichen Kulturen und des Bewusstseins
geleistet, aber ich halte sie als Maßgabe für die heutige Entwicklung und die
Zukunft nicht mehr für geeignet.
Die Entwicklung der Menschheit ist an einem Übergang angekommen, wo es dringendes Erfordernis ist, Verantwortung für die gesamte Menschheit und Erde / Biosphäre zu übernehmen (s. Anthropozän-Diskussion). Um diese Aufgabe zu erfüllen, braucht es die Kooperation ganz vieler Menschen – das kann nicht einer und können auch nicht zehn oder Hunderte ethisch gute Menschen allein machen (auch nicht die „richtigen“ Päpste, Propheten, Lamas, Präsidenten, Superreichen oder UN-Generalsekretär – so wichtig all diese auch sein mögen). Diese verantwortungsvolle Aufgabe ist das Zusammenwirken von Milliarden Menschen, Millionen Organisationen und Hunderten Nationen und Kirchen. So soll der Fokus der Ethik eben auf der verantwortungsbewussten Zusammenarbeit all dieser liegen. Das bedeutet, dass wir uns immer wieder fragen: Wozu, zu welchem Zweck, Sinn und Ziel, und: Wie wollen, können und sollen wir kooperieren?
Das ist der Hauptgrund, warum alle mir bislang bekannten
Ethiken nicht zukunftstauglich sind: Sie fokussieren primär das Individuum und
nicht ausreichend das Gemeinsame, das größere Ganze. Wir brauchen eine gänzlich
neu gedachte und praktizierte Ethik, wobei ich unter den einfachen Bürgern
schon viel häufiger eine praktische Kooperation in diesem Sinne erlebe und
beobachte. Ihre Praxis, z.B. ganz besonders die ehrenamtliche Tätigkeit, ist
schon fortgeschrittener als die herrschende gedankliche Ordnung. Die Theorie
hinkt ihrer Praxis hinterher. Anders ist dies bei der Praxis des Hauens und
Stechens vieler führender Politiker und Manager, die eher an Barbarei erinnert.
Der Dalai Lama überreicht das Zepter religiöser Autorität an die Wissenschaft
Interessant für mich ist, dass der Dalai Lama meinte, dass
die neue säkulare Ethik wissenschaftlich begründet sein sollte. Das bedeutet,
dass diese nicht nur mit unserem Gefühl von Gerechtigkeit, Liebe, Schönheit,
Glück und Stimmigkeit verknüpft sein, sondern auch von geordneten Gedanken
geprägt werden soll. Diese Gedanken sollen möglichst mit wissenschaftlich
belegten Argumenten zu begründen sein. Der Dalai Lama gibt damit den
Staffelstab religiöser Autorität nicht nur an die Menschheit insgesamt, sondern
hier auch speziell an die Wissenschaften weiter. Ähnlich hatte sich schon der
Arzt Rudolf Virchow vor 150 Jahren aus wissenschaftlicher Sicht geäußert, als
er 1865 in Hannover sagte: „Ich scheu mich nicht, zu sagen, es ist die
Wissenschaft für uns Religion geworden.“ (zit. n. Schipperges 1998 S. 155). Er
sprach davon, dass die „sittliche Befreiung unseres Volkes“ (1873 Wiesbaden)
erfolgt, indem es gilt „die Moral als eine empirische Wissenschaft nach den
Regeln zu entwickeln, welche die allgemeine Naturwissenschaft konstituiert hat“
(ebenda S.154).
Diese religiöse Verklärung der Wissenschaft ganz besonders
im Zusammenhang mit Moral und Ethik hatte und hat fatale Auswirkungen, die bis
heute noch in vielen Köpfen rumgeistern. Das darwinistische Prinzip, wonach die
Evolution der Lebewesen durch den individuellen Kampf ums Überleben und die
Selektion des Fittesten erfolgt, wurde zum ethischen Grundsatz erhoben. Das hat
wesentlich zur wissenschaftlichen Begründung rassistischer Ideologien wie des
Nationalsozialismus und zur rücksichtslosen Wettbewerbsökonomie beigetragen – und
sorgt heute noch dafür, dass so viele Menschen offen für solche Ideologien sind.
Diese egozentristische Denkart finden wir heute in Trumps „America first!“ und
bei anderen nationalistischen Führern wieder. Mehr oder weniger implizit prägt
sie alle Ideologien, die den Wettbewerb über die Kooperation stellen. Dabei
zeigen viele Forschungen der letzten Jahrzehnte, dass für die schöpferische
Entwicklung des Lebens in der Evolution die Kooperation weitaus wichtiger war
und die Selektion im Kampf ums Überleben eine zweitrangige Rolle spielte. Für
die kulturelle Evolution sowie dem Umgang mit der Natur heute gilt dies umso
mehr.
Egozentrismus liegt letztlich auch dem kategorischen Imperativ
von Kant sowie den verschiedenen Fassungen der ‚Goldenen Regel‘ zur Ethik und
selbst dem christlichen Gebot der Nächstenliebe zugrunde: „Liebe deinen
Nächsten wie dich selbst!“. Und was ist mit den Menschen, die sich selbst nicht
lieben? In diesen ethischen Grundsätzen der Vergangenheit wird jeweils das
eigene Wesen, die eigenen Gefühle, Bedürfnisse bzw. Gedanken zum Maßstab für
den Umgang mit allen anderen gemacht.
In den Wissenschaften ist nicht mehr das individuelle
Subjekt maßgeblich, sondern ein Meta-Subjekt (vgl. „Metativität“ Petzold 2001,
2017), das durch intersubjektive Kommunikation und Abstimmung entsteht. Wenn
die Wissenschaften über die Ethik (mit-)bestimmen sollen, bedeutet das, dass
die säkulare Globale Ethik erstens das Ergebnis von intersubjektiver Abstimmung
ist und zweitens in einem fortgesetzten Prozess des Lernens, der Entwicklung.
Wissenschaften sind lernende Systeme.
Ethik im praktisch abwägenden Diskurs
Mir geht es hier um einen gedanklichen ethischen Rahmen, in
den wir unsere individuellen Gefühle integrierend einordnen, in dem die Gefühle
ihre intersubjektive Bedeutung und ihren gesellschaftlichen, kulturellen Platz
bekommen. Die Wissenschaft hat ihren Platz nicht so übergeordnet und linear,
wie Virchow sich das vor 150 Jahren vorgestellt hat, dass die moralischen
Grundsätze sich aus den wissenschaftlichen Methoden direkt ableiten lassen.
Wissenschaft – verstanden als Ordnung / Strukturierung des Wissens – ist ein Hilfsinstrument
für menschliche Entwicklung, heute bei der Verantwortungsübernahme, einer
verantwortungsvollen Kooperation zum Wohle der Menschheit in der Biosphäre.
So ist das „Wohl Aller“ keine klar oder gar quantifizierbar
definierte Größe, sondern ein relativ unbestimmtes inneres menschliches Idealbild,
ein komplexer Attraktor, eine Vision des guten Lebens auf der Erde, dem wir uns
in einer langfristigen Evolution gemeinsam annähern. Und bei diesem
Annäherungsvorgang, der im wesentlichen durch einen intersubjektiven, auch
inter- und transkulturellen Prozess stattfindet, unterstützen uns die
Wissenschaften, z.B. mit der Glücks-, Kreativitäts-, Empathie- und Klimaforschung,
der Erforschung der Dynamik komplexer Systeme usw…
Den Grundgedanken einer Diskursethik, die im kommunikativen Prozess
entsteht und sich in seinen Formulierungen und Anwendungen immer
weiterentwickelt, hatten besonders schon Karl-Otto Apel (1973, 1988) und Jürgen
Habermas (1983, 1991) ausgeführt.
Ähnliches gilt für die Definition der Art und Weise der
Kooperation. So dient „Kooperation zum Wohle Aller in der Biosphäre“ als
ethische Leitorientierung, deren jeweils konkrete Bedeutung in der Praxis
Inhalt und Ergebnis eines abwägenden Diskurses ist. Sie wird dabei auch in
ständiger Entwicklung sein, um ihren maßgeblichen Dienst zum Wohle Aller in den
Wandlungsphasen, den Transformationen erfüllen zu können.
Literatur
Apel KO (1973): Das
Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik: Zum
Problem einer rationalen Begründung der Ethik im Zeitalter der Wissenschaft. In:
Ders.: Transformation der Philosophie. Frankfurt a. M. 1973, Bd. 2, S. 358–435
(Orig.: 1972).
Apel KO (1988): Diskurs
und Verantwortung. Das Problem des Übergangs zur postkonventionellen Moral.
Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Habermas J (1983): Moralbewusstsein
und kommunikatives Handeln. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Habermas J: Erläuterungen
zur Diskursethik. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Petzold TD (2017): Schöpferische Kommunikation. Bad
Gandersheim: Verlag Gesunde Entwicklung.
Petzold TD (2001): Objektivität, Subjektivität und Arzt-Patienten-Beziehung. In: Erfahrungsheilkunde 2/2001 S.71ff.
Petzold TD (2001): Objektivität, Subjektivität und Arzt-Patienten-Beziehung. In: Erfahrungsheilkunde 2/2001 S.71ff.
Schipperges H (1998): Weltbild und Wissenschaft im Spiegel
der „Naturforscherversammlungen“. In: Engelhardt D v (Hrsg.) 1998: Zwei
Jahrhunderte Wissenschaft und Forschung in Deutschland: Entwicklungen –
Perspektiven. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
Das gibt Hoffnung auf eine größere gemeinsame Vision, in der das Wohl-Aller als unser individuelles Wohl wissenschaftlich begründet sein wird und wir alle in rechter ko-operierender Weise miteinander verkehren. Darauf freue ich mich jetzt schon.
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